Vor zwei Wochen haben wir uns mit einem Blogpost zu einem Telefonat, seiner dramatischen Auswirkung auf die Weltordnung, dem Auseinanderfallen der westlichen Werte- und Verteidigungsgemeinschaft und einem verwaisten Europa, das nicht im Stande ist, sich im Ernstfall selbst zu verteidigen, beschäftigt. Vor einer Woche haben wir einen Kommentar über den Wert von Sicherheit veröffentlicht, in dem wir uns auch kritisch über das sich abzeichnende Verpassen des kurzen Zeitfensters zur Reform der Schuldenbremse in Deutschland geäußert haben. Direkt danach, hat sich im Oval Office eine Szene abgespielt, die die ganze – westliche – Welt, in helle Aufregung und blankes Entsetzen versetzt hat. In der östlichen Welt haben in Russland die Sektkorken geknallt, die anderen Diktaturen haben sich etwas mehr zurückgehalten.
Der Präsident einer Ukraine, die seit drei Jahren einem russischen Angriffskrieg ausgesetzt ist und täglich mit Raketenangriffen auf militärische und zivile Ziele überzogen wird, wurde – nach Witzchen über seine Kleidung – vom Inhaber des Amtes des Führers der freien Welt und seinem Stellvertreter vor den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit in die Mangel genommen, angegriffen, gedemütigt, unter Druck gesetzt und erpresst, einem Diktat- und Scheinfrieden zu den Bedingungen des Agressors und einem Abkommen zuzustimmen, dass den USA Rohstoffe zur Erstattung geleisteter Militärhilfe in einer Höhe sichert, die auch gelogen war, ohne dass irgendwelche Sicherheitsgarantien, die für einen nachhaltigen Frieden unerlässlich wären, gegeben wurden. Das Hauptdruckmittel war der vollständige und sofortige Stop der Militärhilfe. Im Anschluss wurde der ukrainische Präsident des Weißen Hauses verwiesen und im Anschluss am Montag die Militärhilfe eingefroren.
Die weltweit geschockten Reaktionen auf das, was sich da moralisch, welt- und sicherheitspolitisch abgespielt hat, waren immens. Mit welcher Rücksichtslosigkeit ein Verbündeter einem Diktator ausgeliefert werden sollte, mit welcher Offenheit klar gemacht wurde, dass die westliche Verteidigungsgemeinschaft für die USA ihre Relevanz verloren hat, mit weiterhin welcher Naivität der russische Diktator sogar in Schutz genommen wurde, haben ein mediales Beben ausgelöst. Das war wenig überraschend. Diese Pressekonferenz hat den ersten Wochen der Präsidentschaft von Donald Trump einen traurigen, abstoßenden und erschreckenden Höhepunkt hinzugefügt.
Was sich in der politischen Landschaft in Europa in den Tagen darauf getan hat, war in Geschwindigkeit und Ausmaß nahezu atemberaubend. Der britische Premierminister Keir Starmer, nicht unbedingt als der feurigste Charismatiker wahrgenommen und Chef eines Vereinten Königreiches, dass 2020 aus der EU ausgetreten ist, übernimmt die Führung in eben dieser EU, empfängt Selenskyj noch am Samstag und führende europäische Regierungschefs am Sonntag in London, um einen Friedensplan zu erarbeiten.
Am Montag einigen sich die Spitzen der wahrscheinlich kommenden Regierungskoalition in Deutschland auf ein Sondervermögen in Höhe von 500 Mrd. € und die fast vollständige Herausnahme der Ausgaben für Verteidigung aus der Schuldenbremse. Das Ganze soll noch im scheidenden Bundestag beschlossen werden, da im neuen AfD und Linke das ganze blockieren können. Für Verteidigung müsse jetzt das „whatever it takes“ gelten, das 2007 Mario Draghi als Präsident der EZB zur Rettung des Euro zugesagt hat.
Am Dienstag stellt die Präsidentin der EU-Kommission einen Plan vor, der einen europäischen Fonds für Verteidigung in Höhe von 150 Mrd. € für Verteidigung und die Lockerung der europäischen Schuldenregeln mittels einer nationalen Ausnahmeklausel umfaßt. Damit sollen zusammen mit privatem Kapital und zusätzlichen Mitteln für die Europäische Investitionsbank nahezu 800 Milliarden Euro für die Verteidigung mobilisiert werden. Der Vorschlag wurde am Donnerstag einstimmig beschlossen.
Das sind grundlegende Neuausrichtungen innerhalb von ein paar Tagen, die gezeigt haben, dass Europa sich schnell einigen und handeln kann, wenn es nötig ist. Die osteuropäischen Länder, wie z.B. Polen haben die Notwendigkeit, eigene Verteidigung zu gewährleisten, schon länger erkannt. Mit der Übernahme von Führung in Europa durch den britischen Premierminister haben sich schnelle neue und unkonventionelle Konstellationen als möglich erwiesen. Das zeigt sich auch dadurch, dass ungeachtet des ungarischen Präsidenten Orban, der seit Jahren das Einstimmigkeitserfordernis in der EU als Erpressungsvehikel missbraucht und auch weitere europäische Unterstützung der Ukraine blockiert, kurzerhand eine von Keir Starmer geschmiedete Koalition der Willigen ihn irrelevant macht und die andauernde Unterstützung ermöglicht.
Zudem zeichnet sich nach jahrelangen Verstimmungen zwischen dem zögerlichen deutschem und dem dynamischen französischem Regierungschef durch das Zugehen des kommenden deutschen Bundeskanzlers auf den französischen Präsidenten ab, dass der für Europa so wichtige deutsch-französische Motor wieder in Bewegung kommt.
Russland hat in der Ukraine so viel Kraft gebunden, dass es in den nächsten paar Jahren wahrscheinlich nicht zu einem Angriff auf NATO-Länder kommen wird. Diese paar Jahre stehen zur Verfügung, um eigenständig für Sicherheit sorgen zu können. Das wird anspruchsvoll, aber es scheint, dass Europa die Situation erkannt hat, sich aus dem amerikanischen Schoss zu lösen beginnt und erwachsen wird. Das macht Mut.